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letztes Update:
23.05.2018

. / .Deutsch / Lyrik / Interpretationsansätze / Interpretationsansatz zur „Todesfuge" von Paul Celan
Stand: 09.11.2012

Hier ein Beispiel einer Hausaufgabe, in der es um die Analyse und Interpretation eines lyrischen Textes ging. Angefertigt von einer Schülerin des 12ten Jahrgangs in einem Deutsch-Kurs auf normalem Niveau in 2012. Meinerseits nur mit marginalen Korrekturen versehen.



Gedichtinterpretation „Todesfuge" von Paul Celan

Der Autor Paul Celan beschreibt in seinem Gedicht „Todesfuge“ (entstanden zwischen 1944 und 1945) die Vorgänge und Geschehnisse in Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg aus Sicht der jüdischen Opfer, um die extreme Brutalität der Verbrechen in der nationalsozialistischen Zeit zu verdeutlichen und um möglicherweise das Verständnis der Leser für die Leiden dieser Menschen zu schärfen. Auf den ersten Blick trifft der Leser auf häufige Wiederholungen, die das Gedicht vorerst eintönig wirken lassen.

Insgesamt lassen sich formal sechs Strophen mit variierender Versanzahl finden, welche sich nicht im Geringsten reimen. Außerdem fällt der Blick auf die ungewöhnliche Satzstruktur, die  einerseits parataktisch wirkt, andererseits aber keine Satzzeichen besitzt. Diese Auslassung kann traumatische Gedanken darstellen, da der Autor selbst ein Insasse eines Konzentrationslagers gewesen war oder so gewollt sein, um die Endlosigkeit des Grauens auszudrücken und um ein besonderes Augenmerk auf die Wörter und ihre Bedeutung zu legen.
In der monotonen Atmosphäre des Gedichts stehen neben dem Tod zwei weitere zentrale Themen im Vordergrund. Hierbei legt der Leser ein besonderes Augenmerk auf die kühne Metapher „Schwarze Milch der Frühe“, welcher eine fundamentale Bedeutung zugeschrieben wird, und auf das Leben eines sowohl bestialischen als auch normal bürgerlich wirkenden KZ-Kommandanten.
Schon in der ersten Strophe beginnt Celan mit einem zentralen Anliegen, ein Beweis dafür, dass er mit seinen Worten „auf den Punkt“ kommen und das Thema nicht umschreiben will. Die „Schwarze Milch der Frühe“, zu jeder Tageszeit getrunken von dem lyrischen Wir, birgt eine interessante Antithese, auf die es lohnt, näher einzugehen. Das Adjektiv „Schwarz“, eine Farbe häufig assoziiert mit dem Tod, beschreibt das Nomen „Milch“, welches für Reinheit und weiter auch für Leben und Nahrung stehen kann. Dieser Gegensatz zieht sich durch das gesamte Gedicht und schildert möglicherweise den eintönigen und von Tod geprägten Tagesablauf eines (jüdischen) KZ-Insassen. Weiterhin beschreibt der Autor einen Mann, der gleichzeitig mit den „Schlangen spielt“ und abends nach Deutschland zu seiner Geliebten (Margarete) schreibt (Vers 5-6). Als ein Symbol der bösen Versuchung oder allgemein für das Böse, wird hier die Schlange genommen, um die boshafte und herzlose Seite des Aufsehers zu zeigen. Andererseits wird aber auch eine „liebevolle“ Eigenschaft zum Ausdruck gebracht, indem er einem Mädchen, in welches er möglicherweise verliebt zu sein scheint, schreibt. „Dein goldenes Haar Margarete“ beinhaltet jedoch auch einen anderen Hinweis, als der, der auf eine junge Frau verweist. Das „goldene Haar“ charakterisiert genau wie der deutsche Name „Margarete“ das Klischee eines Ariers (Margarete ist zugleich als Allusion auf „Gretchen“ aus Goethes „Faust“ zu denken). Ein Indiz dafür, dass der KZ-Aufseher vermutlich auch als Arier dargestellt wird. Die Form der Präsentation seiner Person und seiner Taten ist von Strophe zu Strophe als Klimax angeordnet. In der ersten Strophe ruft er seine Hunde zu sich und befiehlt der einen Gruppe Gefangener Gräber zu schaufeln und der anderen zu tanzen. An dieser Stelle befürchtet der Leser zwar die daraus folgenden Abläufe, es wird hier aber noch nicht erwähnt.
Auch in der zweiten Strophe werden die „Schwarze Milch der Frühe“ und der mit den Schlangen spielende und ebenso Briefe verfassende Aufseher wiederholt angesprochen. Eine weitere Antithese wird geschaffen. In diesem Fall ein Gegensatz zu dem goldenen Haar Margaretes. Das aschene Haar Sulamiths (Vers 6) wird angeführt, bevor das lyrische Wir ein „Grab in den Lüften“ schafft, in welchem sie nicht eng liegen. Diese Kennzeichnung einer weiteren jungen Frau wirft anhand der „Asche“ und des weiblichen hebräischen Namens „Sulamith“ keine weiteren Fragen auf. Es handelt sich hier um eine im Krematorium eingeäscherte jüdische Frau, die einen Kontrast zwischen Margarete und ihr schaffen soll.
Im weiteren Verlauf der Strophe steigert sich der Grad der brutalen Aktivitäten, da er die Insassen auffordert, noch tiefer zu schaufeln. Außerdem „greift er nach dem Eisen im Gurt“ (Strophe 2, Vers 8), welches weitere grausame Aktionen vermuten lässt. Mit der Aussage „Seine Augen sind blau“ (Strophe 2, Vers 8) wird zum ersten Mal in dem Gedicht die äußere Erscheinung beschrieben. Wie erwartet scheint auch er ein „Arier“ zu sein und kommt dementsprechend vollkommen den nationalsozialistischen Wunschvorstellungen entgegen. Um die Dimension des Verbrechens zu verdeutlichen, gipfelt die Klimax schließlich in der vierten Strophe. Der Tod sei ein „Meister aus Deutschland“ und wenn die Juden die Geigen dunkler streichen, so steigen sie als Rauch in die Luft.  Aufgrund dieser Erläuterung wird das Mysterium des „Grabes in der Luft/Wolken“ (Metapher; Vers 4, 15, 26) gelöst. Celan beschreibt den Vorgang nach der Verbrennung eines Menschen, wobei die Asche in das Freie verstreut wird. Da durch Winde die Reste der Verbrannten aufgewirbelt werden und in Bereich für Häftlinge gelangen, atmen die noch Lebenden die Überreste des Verstorbenen ein. Dies wird auch mit der „Schwarzen Milch“, die zu jeder Tageszeit „getrunken“ wird, umschrieben.
In der vorletzten Strophe werden verschiedenste Elemente des Gedichts in willkürlicher Ordnung aneinandergereiht. Es wirkt, als ob die Nerven des lyrischen Wir oder auch des Autors zu sehr strapaziert wurden. Zum Schluss des Gedichts arbeitet Celan wieder mit einer Antithese, die das goldene Haar Margaretes und das Sulamiths reduziert aufgreift.  Der Begriff „Fuge“ aus dem Bereich der Musik  kann aus dem Titel „Todesfuge“ abgeleitet werden. Dieser bezeichnet ein musikalisches Kompositionsprinzip, welches fortdauernde Wiederholungen aufweist. Bezogen auf den Namen des Gedichts, könnte hier auf ein Leben mit ständig wieder auftauchendem Tod, so wie es nun auch in der „Elegie“ beschrieben wird, deuten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Gedicht sehr offenkundig (kognitiv) und emotional ergreifend (emotiv) auf den Leser wirkt, der zunächst verwirrt sein mag durch den eigenständigen und sehr eigenwilligen Aufbau. Daher bewirkt die Wahl der lyrischen und sprachlichen Mittel Celans eine besondere Art der Betroffenheit und Schärfe (praktisch) für die Tathergänge, wobei ich meine zu Anfang erstellte Interpretationshypothese als erwiesen ansehe.

Lea Bergmann