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23.05.2018

. / .Deutsch / Epik / Interpretationsansätze / Interpretation zu San Salvador
Stand: 29.03.2012

Diese Interpretation ist bereits 1982 entstanden, und zwar als Sachanalyse zu einer Vorführstunde im Rahmen des 2. Staatsexamens. Mitte 2004 sind noch 2 Sätze hinzugefügt worden, die der hinzugewonnenen Lebenserfahrung geschuldet waren. Relativ früh habe ich die nunmehr in rot gehaltenen Strukturangaben hinzugefügt, um Schülern die Gliederung zu verdeutlichen.

Interpretationsversuch:

Einleitung
In Peter Bichsels Kurzgeschichte „San Salvador“, die erstmals 1964 erschien, geht es thematisch um kommunikative Alltagsprobleme. Bichsel möchte augenscheinlich die Isolation des Einzelnen in der Gesellschaft veranschaulichen. In „San Salvador“ beschränken sich die Handlung, der Kreis der Personen sowie die sprachliche Umsetzung auf ein Minimum.
Inhaltsangabe
Ein Mann verbringt seine Zeit damit, eine zuvor gekaufte Füllfeder auszuprobieren sowie eine Reihe von ziellosen Tätigkeiten auszuführen. Zwischenzeitlich notiert er: „Mir ist es hier zu kalt, ich gehe nach Südamerika, Paul.“ Nach einer gewissen Zeitspanne wird er durch diese Zeilen veranlasst, über mögliche Reaktionen seiner Frau Hildegard hierauf nachzusinnen. Diese erscheint um halb zehn, erkundigt sich unvermittelt nach den Kindern und mit dem Satz „Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.“ endet die Geschichte abrupt.
Überleitung
Die Hauptperson wird vom Erzähler durch das Pronomen „er“ eingeführt, welches konsequent beibehalten wird. Relativ spät (Z.10) erfährt der Leser indirekt, dass „er“ den Namen Paul trägt. Bereits hier wird die Distanz des Erzählers zu seiner Figur verdeutlicht.
1. Charakteristik
Paul neigt offenbar nicht zur Häuslichkeit; die Hinweise auf das Stammlokal (Z. 26) und das Kino (Z. 12, 15) deuten dies an. Beides sind Orte der Flucht, die nicht Aktivitäten fordern, sondern eine konsumierende Haltung begünstigen. Zudem verfügt er offenbar nicht über Freunde. Darf die Niederschrift seiner eigenen Adresse und die seiner Eltern (Z. 2,3) noch als unverfänglich gelten, wird das Bild seiner Isolation – „überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte,“ - bereits deutlicher. Das Warten, durch die vielfache Wiederholung des Adverbs „dann“ sprachlich sowie durch die Textlücken (Z. 11, 38) formal gekennzeichnet, ist ein weiteres Zeichen seiner Inaktivität. Seine äußerlichen Aktivitäten sind mit dem Kauf der Füllfeder und der Niederschrift des kurzen Briefes bereits erschöpft. Alle weiteren Tätigkeiten, sprachlich durch die asyndetische Reihung hervorgehoben, sind eher als Übersprungshandlungen zu werten, die dazu dienen, das in ihm unterschwellig vorhandene Unbehagen, welches an die Oberfläche dringt, zu verdrängen. Mit seiner Inaktivität hängt als weiteres Charakteristikum seiner Person eine offensichtliche Entscheidungsschwäche zusammen. Er kann sich weder dazu entschließen fort zu gehen noch zu bleiben; diese Entscheidung wird ihm durch die verrinnende Zeit abgenommen.
2. Charakteristik
Im Vergleich zu ihrem Mann scheint Hildegard der aktive Teil in dieser Beziehung zu sein.  Sie ist in einem Kirchenchor tätig (Z. 16) und erkundigt sich sofort nach ihrer Ankunft nach den Kindern. Das Fehlen eines gegenseitigen Begrüßungswortes verdeutlicht die emotionale Sprachlosigkeit beider Partner. Ihre gegenseitige Fremdheit, durch das Bild der rein räumlichen Trennung noch unterstrichen, wird durch die Gedankenrede (Zeilen 22 - 32) der Hauptperson veranschaulicht. Er ist sich über ihre möglichen Reaktionen unschlüssig: „Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht.“ Die überaus seltene Nutzung der Konjunktion „und“ (Z. 9,39) sowie die Inversion des Adverbs „vielleicht“ stützen diesen Eindruck. Pauls Kenntnis über Hildegard beruht mehr auf Äußerlichkeiten (Z. 30-32). Auch sie scheint nur unzureichend über seine Gedankenwelt informiert zu sein – „etwas müßte ja geschehen sein.“ - dafür kennt sie die Anzahl seiner Hemden (Z. 24).
Beziehung
Paul leidet unter dieser Beziehungslosigkeit und der daraus resultierenden Einsamkeit. Dieses zunächst unbewusste Gefühl dringt an die Oberfläche und schlägt in eine bewusste Handlung um
„ ... nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: ...“ Die bewusste Zielstrebigkeit dieser Handlung wird durch die sonst seltene Nutzung der Adjektive –„sorgfältig“ in adverbialer Stellung - und der kopulativen Konjunktion „und“ sprachlich hervorgehoben.
Symbolischer Ausdruck der empfundenen Gefühlskälte ist die Schlüsselaussage „Mir ist es hier zu kalt.“ Die Folgerung „ich gehe nach Südamerika“ ist der Ausdruck einer Hoffnung nach Veränderung seiner Situation, die sich in der Eintönigkeit seines Alltags zusätzlich verdeutlicht.  Die Wärme, die er im Süden sucht, ist nur äußerlich; er bliebe auch dort einsam. Dieser Gedanke erlischt jedoch relativ schnell, ebenso „wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde“. Er führt letztlich auch zu keinerlei Konsequenzen, außer einem resignierenden gedanklichen Nachspiel über die möglichen Reaktionen Hildegards auf eine Tat, die nicht erfolgen würde.
Problem
Gerade die Alltäglichkeit dieses Ehe-Alltags, die wir als Leser perspektivisch verkürzt aus der Sicht eines - man ist geneigt zu sagen – „Antihelden“ vermittelt bekommen, vermag trotz aller Distanz in der Erzählhaltung das Bewusstsein zu schärfen für ein wohl zu häufiges Nebeneinander-Her-Leben in vermeintlich „normalen“ Beziehungen. Die hier offensichtliche Technik der Auslassung, der Reduktion, der leichten Allusion führt zu Spekulationen über die Ursachen, über Fragen der Schuld und letztlich über den Fortgang des Geschehens. Sich vielleicht auftuende Fragen werden unbeantwortet bleiben; in dieser Uneindeutigkeit zeigen sich Kafka'sche Elemente und gerade das macht vielleicht den „trocknen Charme“ dieser Geschichte aus.
Rolle des Titels
Eine interessante Frage ist übrigens die Beziehung des Titels zur Kurzgeschichte. Es scheint letztlich belanglos, ob nun konkret die Hauptstadt von El Salvador oder jene Insel der Bahamas gemeint ist, die 1492 von Kolumbus entdeckt wurde; beides liegt im übrigen in Mittelamerika. Eher ließe die Übersetzung „Heiliger Erlöser“ eine erste Deutung zu. Entscheidend für die Wahl gerade dieses Titels dürfte die verdichtete Klangfülle dieses Namens sein. Alliteration und Assonanzen prägen ein Reizwort, welches Assoziationen an Exotik, Wärme und Abenteuer wecken. Somit wird durch den Titel zusätzlich unterstrichen, dass es nicht um ein konkretes Ziel geht, San Salvador wird im Text auch nicht wieder genannt, sondern in erster Linie um die Flucht aus der augenblicklichen Situation in ein Traumland hinein.
Erzähltechnik
Auffälliges strukturelles Merkmal dieser Kurzgeschichte ist der einfache Aufbau, der sich bereits in der einsträngigen, linearen Handlungsführung dokumentiert. Einer knappen Einführung, im Plusquamperfekt gehalten, und dem raschen Überleiten ins Präteritum folgt ein nüchterner Vorgangsbericht nur unterbrochen durch eine Gedankenrede (Z. 22-32), die sich sprachlich durch den Konjunktiv II abhebt. Hierzu gehört auch die einfache syntaktische Struktur einer Reihe von kurzen Aussagesätzen, z.B. „Dann saß er da.”
Sprache
Die Verständlichkeit der Aussage wird in der Regel durch die Wortwahl, Verzicht auf Adjektive und Adverbien, erleichtert. Bisweilen führt die Satzkürze bis zur Ellipse - z. B. der Zweiwortsatz „Saß da.“ -  und dient der Konzentration durch Reduktion: „ ... dachte an Palmen, dachte an Hildegard. Saß da.“ Diese Reduktion lässt Raum für graphische Leerstellen, welche zusätzlich die Daseinsleere und die verrinnende Zeit verdeutlichen. Der Zeitablauf wird zudem durch das temporale Adverb „dann“ veranschaulicht, das gleichsam leitmotivischen Charakter besitzt. Die kurzen Sätze werden abgelöst von einigen Satzperioden (Z. 2 - 10, 12 - 15, 30 - 32, 33 - 37), die überwiegend in Parataxe gehalten, Handlungen asyndetisch aneinanderreihen, indem Ketten von Teilsätzen (Prädikate und Objekte) gebildet werden. Durch die Ausklammerung des Subjekts „er“ wird verdeutlicht, dass sich für ihn, einerlei was er tut, nichts ändert. Diese Unveränderbarkeit wird auch durch die zweimalige Wahl des Präsens historikum (Z. 16, 27) unterstrichen.
Die dreifach anaphorische Reihung „Sie würde ...“ ist weniger als Stilmittel der Verstärkung zu sehen, denn als Veranschaulichung der Gleichförmigkeit seines Alltags. Am deutlichsten hierfür sind die z. T. wörtlichen Wiederholungen, die das Statische an seiner Situation belegen.  Die Wiederholungen enden in der pointierten Formulierung am Schluss, die seine Erwartung bestätigt: „Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.“
Zeitgestaltung
Die Zeitstruktur, die mit fortlaufender Handlung in die Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit mündet, ist ein zusätzliches Merkmal der Konzentration.
Erzähler
Auffällig ist ferner, dass keinerlei persönliche Züge eines Erzählers auszumachen sind, da es sich um eine Darstellung ohne Wertung handelt.  Der hier gewählte auktoriale Erzähler mit stark personalen Zügen distanziert sich sowohl von seiner Gestalt als auch von den Lesern, sodass in der Tendenz eine neutrale Erzählhaltung vorliegt. Bichsel signalisiert durch seine Wortarmut nicht nur die Kommunikationslosigkeit zwischen den betroffenen Figuren, sondern ebenso die zwischen Erzähler und Leser.
Adressat
Generalisierung, einfache Sprache und Wortwahl weisen auf ein eher breiteres Lesepublikum hin; vom thematischen Kontext her ist als Zielgruppe weniger an Jugendliche zu denken.
Schluss
Prägnanz und Stimmigkeit in der Wahl aller Parameter prägen diese gleichsam zeitlose Kurzgeschichte, die viel Raum für eine kritische Hinterfragung eigenen Verhaltens lässt.

Verfasser: H. Wilczek