. / .Politik / Beispiel für eine Abitur-Klausur aus der Zeit vor dem Zentralabitur II Stand: 30.09.2007 ↵
Neben generellen Problembereichen eines Zentralabiturs ist gerade für das Fach Politik - es hat mittlerweile den Zusatz Wirtschaft erhalten - eine besondere Problematik erkennbar. Neben Geschichte und in Teilbereichen wohl auch Erdkunde ist insbesondere Politik besonders sensibel für zentralistische Zugriffe; dies mag jetzt noch nicht ganz offensichtlich werden, aber der Hang der jeweils amtierenden Landesregierung, hier gezielt ein Auge auf die Themenstellung zu werfen, wird zunehmen: Dies liegt in der Natur der Dinge, denn jeder Form von Herrschaft missfällt Kritik - und sei sie auch noch so dezent; der vorauseilende Gehorsam ist nicht ausgestorben und mitunter genügt es, wenn scheinbar unliebsame- oder auch tatsächlich unliebsame Themen ausgeklammert werden. Ganz abgesehen davon, dass umgekehrt gewisse Themen alsbald favorisiert werden und - so fürchte ich - mit einer gewünschten Akzentuierung. Nun könnte man beschwichtigend einwenden, dass die Presse immer ein entsprechendes Gegengewicht darstellen wird; ich habe da so meine Zweifel: Sollten sich gewisse Glaubenssätze erst verfestigt haben, ist es sehr schwer, diese wieder aufzubrechen. Normierte Politik-Felder, gleichsam „linientreue” Themen - auch unsere Republik hat ihre Tabus - führen nicht zu einem multiperspektivischen Ansatz kommender Führungseliten.
1. Fassen Sie die beiden Auffassungen, die in Text 1 und Text 2 deutlich werden, zusammen!
2. Erläutern Sie unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Entstehungsbedingungen die vorliegenden Positionen zum Krieg!
3. Erörtern Sie auf der Grundlage des bisher Erarbeiteten das jeweils denkbare Kalkül der US-Administration und der Bundesregierung im Irak-Konflikt 2002/3!
1. 2 Textvorlage:
Text 1
Friede ist ein ebenso alter wie ehrwürdiger wie undeutlicher Begriff, mit vielen historischen Konnotationen verbunden. Sie umfassen das Ziel der Gerechtigkeit wie das der Gewaltlosigkeit, deuten auf Glück und Harmonie, zielen also auf einen gesellschaftlichen Zustand, wie er in der Regel unter dem Millennium [tausendjähriges Reich des Friedens] verstanden wird. Als Arbeitsdefinition wird hier ein anderer Friedensbegriff verwandt. Da eine menschliche Gesellschaft ohne Konflikte nicht denkbar ist, jedenfalls nicht zu realisieren sein wird, kann der Friedensbegriff nicht auf das Fehlen von Konflikten, sondern lediglich auf die Absenz bestimmter Austragsformen abstellen. Auch hier kann nicht Gewaltlosigkeit gemeint sein, jedenfalls nicht zuerst. Gewaltsame Regelungen gibt es auch noch innerhalb geschlossener Gesellschaften, von der Familie angefangen bis zum Staat. (...)
Friede verlangt auch keineswegs die Abwesenheit von Gewaltanwendung überhaupt in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern zunächst nur die Abwesenheit von militärischer Gewaltanwendung, freilich mit der Tendenz, nach dieser Stufe auch die anderen Formen der Gewaltanwendung immer mehr zu eliminieren.
Diesem Friedensbegriff, dieser Anlage der erkenntnisleitenden Absicht, liegt freilich eine Wertentscheidung zugrunde, die deutlich artikuliert werden muß: Leben wird hier als der höchste Wert angesehen, der erhalten werden muß. Diese Entscheidung ist wissenschaftlich nicht nachweisbar, sie ist vielmehr eine axiomatische Setzung. Wenngleich sie wohl einen fast universalen Konsens für sich in Anspruch nehmen kann, bleibt sie eine Prämisse, die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht aufzutreten vermag. Von ihr ist aber dieser Friedensbegriff entscheidend abhängig. Erst sie macht sichtbar, daß Schlecht-Leben besser ist als Nicht-Leben, genauer: daß das Leben die Primärvoraussetzung für den Zustand eines besseren Lebens ist.
E. 0. Czempiel, Schwerpunkte und Ziele der Friedensforschung; in: Internationale Politik, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Band 4, Wiesbaden o. J., S. 12 ff.
Text 2
Ohne Zweifel hat es ungerechte Kriege gegeben, Blut ist geflossen, das man hätte sparen sollen und können. Nichtsdestoweniger gibt es Fälle, in denen der Krieg nötig, unvermeidlich und gerecht ist. Ein Fürst muß seine Verbündeten verteidigen, wenn sie angegriffen werden.
Die Selbsterhaltung nötigt ihn, mit bewaffneter Hand das Gleichgewicht zwischen den Mächten Europas zu erhalten. Seine Pflicht ist es, die Untertanen vor feindlichen Einfällen zu schützen.
Er ist durchaus befugt, für seine Rechte einzutreten, für eine Erbschaft, die angefochten wird, oder für ähnliche Streitfragen, und zwar, indem er die Unbill, die man ihm antut, mit Gewalt zurückweist. Welche Schiedsrichter haben denn die Herrscher? Wer will ihr Richter sein? Da sie denn für ihre Rechtsstreitigkeiten kein Gericht finden, das Urteil zu fällen und zu vollziehen, so daß es mächtig genug wäre, das Urteil zu fällen und zu vollziehen, so muß Gewalt die Entscheidung übernehmen. (... )
(Die Kritiker) ereifern sich gegen den Krieg. Er ist an sich schrecklich, aber doch nur ein Übel wie die anderen Geißeln Gottes, von denen man wohl annehmen muß, daß sie innerhalb der Weltordnung notwendig sind, da sie periodisch auftreten und bis jetzt sich noch kein Jahrhundert rühmen konnte, frei von ihnen geblieben zu sein. Wenn sie den ewigen Frieden herstellen wollen, so müssen sie sich in eine Idealwelt begeben, wo das Mein und Dein unbe
kannt ist, wo Fürsten, Minister und Untertanen allesamt leidenschaftslos sind und jedermann der Vernunft gehorcht.
Aus: Friedrich der Große: Kritik der Abhandlung über die Vorurteile, 1770
2. Fundstellen der Texte:
Text 1:
W. Kampmann u. B. Wiegand (Hrsg.)
Politik und Gesellschaft, Grundlagen und Probleme der modernen Welt,
Sek. II, Bd. 2, S.286 ff
Text 2:
Der Niedersächsische Kultusminister:
Handreichungen für den Sekundarbereich II, Aufgabenfeld B, 3. Folge 152
3. Bemerkungen zum Unterrichtszusammenhang:
Die vorliegende Aufgabenstellung bezieht sich auf das übergreifende Kursthema „Probleme der Friedenssicherung“ (12.2) unter dem Rahmenthema „Internationale Politik und globale Verantwortung“ (R5).
Neben D. Riesenbergers „Krieg und Friedensordnung“, Westermann - Colleg, Heft 4 als Arbeitsheft wurden in Auswahl Einzeltexte aus den Bereichen Verhaltensforschung, Psychologie, Soziologie und Geschichtsphilosophie miteingebracht.
Thematisch wurden epochentypische Kriegsformen behandelt - u. a. Kabinettskriege und das Prinzip der Abschreckung im atomaren Zeitalter- sowie die Fragen von Macht und Moral am Beispiel N. Machiavellis, so dass sich hier Bezüge zur Darstellung Friedrich II
(T 1) herstellen lassen. In 13.1 waren Bundestags- und Landtagswahlen sowie der Irak-Konflikt aus aktuellem Anlass häufiger Unterrichtsgegenstand. Methodische Bezüge sind gegeben durch die Arbeit mit Quellen und Darstellungen in anderen Kursen.
4. Erwartungshorizont:
Zu 1.
T 1: Kennzeichnung der Definitionsproblematik, Eingrenzung des Sujets: Friede nicht als unnatürliches Fehlen jeglicher Aggression, sondern als Abwesenheit von Krieg zwischen Staaten; Reflexion der eigenen Prämissen; hier: Erhalt des menschlichen Lebens als höchstes Ziel. Intention: Vermeidung von Kriegen durch rational begründete Konfliktvermeidungsstrategien denkbar (und notwendig) erscheinen zu lassen.
T 2: Konzediert Existenz sog. ungerechter Kriege, folgende Legitimation sog. gerechter Kriege. Bedingungen:
1. Bewahrung des Status quo: Die Staatsräson gebiete die Verteidigung der Verbündeten, der Untertanen und des Mächtegleichgewichts.
2. Durchsetzung monarchischer Rechte: Fehlen einer übergeordneten Instanz zwinge bei juristischen Streitfragen zwischen Monarchen zum Krieg. Relativierung einer im Ansatz zugebilligten Abscheu vor Kriegen durch Gleichsetzung mit Naturgewalten und Verlagerung der tatsächlichen Verantwortung auf Gott und die Unvollkommenheit der Welt. Intention:
Nachdrückliche Legitimation des „gerechten Krieges“ und Ablehnung einer möglichen Verantwortung.
Anforderungsbereich I
Zu 2.
Divergenz der Auffassungen eröffnet weite Räume; auch textimmanent bieten beide Positionen Ansätze zur Kritik: Breite des Spannungsfeldes: menschliche Verantwortung vs. Verantwortung des Schicksals, Menschenachtung vs. Menschenverachtung, Veränderungs-wille vs. Rechtfertigung des Bestehenden.
Friedrich II. als absolutistischer Fürst ist den Sachzwängen (necessita) seiner Stellung verpflichtet: Krieg ist noch lange ein legitimes Mittel der Politik. Dennoch: Widerspruch von Macht und Moral aufzulösen in den Gegensatz von „gerecht“ und „ungerecht“ ist kritisierbar, da niemals „ungerechte Kriege“ begonnen wurden (vgl. Präventivkrieg, Erbfolgekrieg); insbesondere die Verlagerung der Verantwortung nach dem Prinzip „Den Krieg beklagen hieße die Unvollkommenheit der Welt zu beklagen“ ist eher dem Bereich der Mythenbildung zuzuordnen.
Czempel als Wissenschaftler unserer Epoche versucht die Grenzen des politisch Machbaren abzustecken. Aber: Machtbehauptung nicht nur Element rationaler Entscheidungen; wenn der Krieg nicht mehr Ultima ratio sein soll, wären zusätzliche Bedingungen zu postulieren: wirkungsvolle supranationale Organisationen, Interessenidentität der atomaren Mächte (Prinzip der glaubwürdigen Abschreckung), vielleicht als Vision: wachsende moralische Ächtung des Krieges als archaische Jugendsünde der Menschheit.
Anforderungsbereich II
Zu 3.
Erwartet wird aus den Primärtexten ein Transfer auf die aktuelle politische Situation, so dass multiperspektivisch die unterschiedlichen Entscheidungen der Bush-Administration und der Bundesregierung beleuchtet werden können.
USA: Als „Welthegemon“ klare traditionelle Interessenpolitik, die Krieg als legitimes Mittel der Politik nicht in Frage stellt; geostrategische Lage des Irak, seine mittel- und längerfristige Bedeutung als Erdölproduzent sowie die Unkalkulierbarkeit seines Herrschers im Umfeld einer Radikalisierung fundamentalistischer Islamgruppen, die ihrerseits bestehende prowestliche Regierungen bedrohen, fordern ein Eingreifen der USA heraus.
Eingreifen wird als Präventivmaßnahme gesehen und moralisch als Rechtsbruch einer UNO-Resolution vor der Weltöffentlichkeit legitimiert.
Bundesrepublik: gewisse Uneindeutigkeit im politischen Kalkül: Instrumentalisierung des Irak-Konfliktes für innenpolische Zwecke, Imageaufbau der BRD als moralische Institution:
pazifistische und humanistische Prinzipien als Maxime des polit. Handelns, konzeptionell neue europäische Politik, die selbstbewusst eine gleichberechtigte Partnerschaft anstrebt.