. / .Deutsch / Epik / Interpretationsansätze / Interpretation zu „Der Soldat von La Ciotat” Stand: 09.02.2011 ↵
Diese Interpretation basiert auf Unterrichtsergebnissen; der Text wurde als Paralleltext zu Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege” bearbeitet. Zwei Schülerinnen des Antonianums aus 12.2 haben im Februar 2010 diese erstellt. Meinerseits wurde die Interpretation bisweilen etwas ergänzt und mit marginalen Korrekturen versehen.
Interpretation: Der Soldat von La Ciotat
Die Kalendergeschichte mit parabelhaften Zügen „Der Soldat von La Ciotat“ von Bertolt Brecht, die erstmals 1935 entstand und 1937 erschien, handelt von einem für eine Bronzestatue fälschlich gehaltenen Soldaten namens Charles Louis Franchard, der auf einem öffentlichen Jahrmarktsplatz in der südfranzösischen Hafenstadt La Ciotat um Geld bettelt. Er leidet durch Kriegsfolgen bedingt unter einer unheilbaren Krankheit, aufgrund derer er zur Unbeweglichkeit verdammt ist.
Bertolt Brecht will mit dieser Schrift die kritiklose Leidensbereitschaft und Akzeptanz der Soldaten aller Jahrhunderte, als „Machtinstrument“ zum Profit eines Herrschers missbraucht zu werden, anprangern.
Der Text kann in drei Sinnabschnitte gegliedert werden, deren größten Anteil primär die Gedankengänge des Ich-Erzählers im 2. Abschnitt ausfüllen. Zunächst werden dem Leser Orts- und Zeitangaben sowie eine knappe Beschreibung der Situation geliefert (Z. 1-23). Zudem enthält der Abschnitt eine auf einem Papierschild verfasste Selbsterklärung des Soldaten (Montagetechnik). Im folgenden Abschnitt (Z. 24-58) folgen die sich anknüpfenden Überlegungen des Ich-Erzählers, in denen aus diesem „Sonderfall“ abgeleitet gerade das „Typische“ verdeutlicht wird. Der letzte Sinnabschnitt (Z. 59-62) beendet die Geschichte abrupt mit zwei Fragen, die je nach Deutungsperspektive als rhetorische oder echte Fragen aufgefasst werden können.
Bereits nach einmaligem Lesen sticht die intensive antithetische Wirkung des Textes hervor:
Zum einen setzt der Autor den Soldaten mit einer Bronzestatue gleich. Ein lebendiges Individuum wird somit als depersonalisierter „Statuenmensch“ (Z. 13) der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Er ist „vollkommen unbeweglich“ (Z. 17), bedrängt „über (...) unter (...) um sich (...) vor sich (...) hinter sich“(Z. 48–52) und nicht mehr zu selbständigen Entscheidungen fähig. Der Vergleich mit einem „Stein“ (Z. 35) degradiert ihn zur gefühlslosen Spielfigur eines Befehlshabers. In dem kurzen Abschnitt (Z. 28 - 32) wird durch den durchgehend verwendeten „genitivus possesivus” die als Besitz geltende Wirkung noch eindeutiger herausgestellt.
Wie durch die „partizip perfekti” „durchlöchert, angefahren, zertrampelt, zerschmettert, zerrissen“ (Zeilen 35 ff.) beschrieben, verfällt der Soldat immer wieder in dieselben Muster, ohne aus den Fehlern seiner Vorgänger zu lernen. Als Ursache dieser Leidensfähigkeit sieht der Autor hier
die „unheilbare Krankheit der Unempfindlichkeit“ (Z. 57-58). Diese wird allerdings einer eventuellen Möglichkeit der Heilung gegenübergestellt (Z. 57-58), was als indirekter Appell an den Leser interpretiert werden kann und im Folgenden noch genauer erläutert werden wird.
Ein weiteres Paradoxon ist die Präsentation des anonymen Soldaten als Statue im Zentrum der Öffentlichkeit. Sich ein Denkmal zu setzen, macht die besagte Person legendär für die Nachwelt. Zwar steht dem tapferen Kämpfer scheinbar diese Position durchaus zu, denn er ermöglichte „alle diese großen Taten“ (Z. 26 u. 27), allerdings betrachtet ihn die Öffentlichkeit als „wunderliches Objekt“ (Z. 23) und nicht legitimiert für diese hervorgehobene Position. Niemand wird sich ungerechter Weise an den Soldaten erinnern, der für sie „das Land, (...) verteidigte“, das ihm nicht einmal gehörte (Z. 46-47).
Die Problematik der immer wiederkehrenden Instrumentalisierung durch die Herrschenden ist offensichtlich kein Einzelfall, sondern hat für Brecht einen allgemeingültigen Charakter – eine gleichsam allegorische Bedeutung - und ist „eben doch nicht (eine) so ungewöhnliche Fähigkeit“ (Z. 32-33).
Innerhalb des Textes lassen sich undefinierte Zeitangaben bzw. Zeiträume wiederfinden: „...ten Regiment“ (Z. 15), „verschiedenste Zeitalter“ (Z. 36), „beliebige Zeit“ (Z. 17).
Doch nicht nur der Zeitraum bleibt unbestimmt (allenfalls wird eine leicht zeitdehnende Relation erkennbar). Auch beim Ort erfolgt keine Differenzierung auf bestimmte Länder oder Volksgruppen, sondern Generalisierung durch die Andeutung „in allen Sprachen“ (Z. 55). Folglich soll hier ein zeitloses Phänomen gezeigt werden, was eben nicht ein einmaliges Ereignis ist, und zugleich überall passiert.
Überdies lässt die Beschreibung der gegen den Soldaten eingesetzten Waffen eine Entwicklung in Bezug auf technische Innovationen und immer radikalere Methoden („immer vollkommeneren Geschütze mehrerer Jahrhunderte“ (Z. 40-41) feststellen (als Klimax angeordnet), die bis in die Gegenwart reichen und somit nicht als vergangene Altlast abgetan werden können.
Besonders die Aufzählungen ruhmreicher Herrscher vieler Epochen (Z. 26 - 39) lässt die Gleichförmigkeit und Unbelehrbarkeit des Verhaltens der Soldaten erkennen. Die Beziehung zwischen dem befehlenden, theoretisch agierenden Heerführer und dem aktiv ausführenden Soldaten ist geprägt von einer evidenten Ausnutzung „Ländereien, die er eroberte, nahm nicht er in Besitz“(Z. 45), die von den Soldaten offensichtlich in keinerlei Weise kritisiert wird. Die bedingungslose Bereitschaft „aber immer unwissend warum und wofür“ (Z. 44-45), für einen General im Krieg zu sterben und als Probe für „alle erdenklichen Werkzeuge der Vernichtung“ (Z. 33-34) zu fungieren, wird als „entsetzlicher Aussatz der Geduld“ (Z. 57) getadelt. Ein besonderes Charakteristikum dieses Soldaten all der Jahrhunderte ist dabei seine „Unverwüstlichkeit“. Dieser unverwüstliche Soldat (epitheton ornans) „steht“, obwohl er zerrissen, zertrampelt und zerstückelt wurde.
Sprachlich ist eine Steigerung der Komplexität der Satzstruktur zu verzeichnen. Während zu Beginn Parataxen überwiegen, erfordert der folgende Text durch zahlreiche Einschübe (Parenthesen) und Hypotaxen ein intensiveres Lesen, da die eigentliche Aussage des Satzes erst ans Ende gestellt wird. Durch die gehäufte Setzung von Ausrufezeichen (Z. 53- 58) und den litotischen Ausruf (Z. 56) am Ende des Textes wird die ohnehin schon appellierende, suggestive Sprache noch eindringlicher. Diese Wirkung wird auch durch die im unmittelbar folgenden Abschnitt vorhandene Correctio mit simultan enthaltener Klimax (Z. 59-61) erzielt.
Weitere sprachliche Besonderheiten sind der Gebrauch von Fremdwörtern der französischen Sprache, die übermäßige Verwendung von Nomen aus dem Bereich Krieg und Militär und die herausragende Stellung des Personalpronomens „er„, womit ein Bild eines einzelnen Soldaten geschaffen wird, das den Typus alle Soldaten/Söldner repräsentieren soll. Konstituierend für den Text ist auch die häufig inversive Satzstruktur, die den Rezipienten immer wieder nötigt innezuhalten (vgl. provozierende Verzögerung des Verbs „steht“ in Z. 43).
Auffällig ist ferner, dass Brecht seinen subjektiven Ich-Erzähler stets durch das Personalpronomen „wir“ präsentiert, was als eindeutiges Identifikationsangebot zu verstehen ist, um die intendierte Wirkung einfacher beim Leser zu erzielen. Vor allem durch die letzte Frage wird der Rezipient förmlich zum Handeln aufgefordert, die gängigen Normen zu durchbrechen.
Die Geschichte richtet sich an breitere Leserschichten, die aus den alten Mustern ausbrechen, sich nicht den reglementierten Rollen anpassen wollen. Nur sie selbst sind in der Lage die „Krankheit“ zu überwinden, wodurch sich die Frage am Ende verifizieren würde.
Nach eingehender Untersuchung des Textes bestätigt sich meine Interpretationshypothese.
Die Geschichte prangert die mangelnde, kritische Hinterfragung der Soldaten und die Willkürlichkeit der Herrschenden an, Menschen als Spielfiguren für ihre Interessen zu missbrauchen.
Da Bertolt Brecht marxistische Grundüberzeugungen hegt, ist dieser Text möglicherweise nicht nur auf militärische Bereiche zu reduzieren, sondern auch auf die Stellung des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat. Somit würde der Soldat repräsentativ für das Proletariat stehen (pars pro toto), das den bürgerlichen Staat mit Dienstleistungen und Abgaben finanziert und stützt, allerdings manchmal willkürlichen Bestimmungen politischer Positionen ausgesetzt ist.
Die Art und Weise, wie Bertolt Brecht die intendierte Wirkung mithilfe der Sprache erzielt, zeugt von rhetorischer Kompetenz und Sprachgewandtheit. Mit Neologismen (z. B. Z. 49), zahlreichen und eindringlichen Metaphern (Tankmatsch), Personifikationen und Vergleichen liegt ein hoher Grad an Bildhaftigkeit vor. Durch einen anspruchsvollen Schreibstil veranlasst er den Leser indirekt, sich intensiver mit der Materie auseinanderzusetzen und persönlich Stellung zu beziehen.