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23.05.2018

. / .Deutsch / Epik / epische Texte / Robert Musil, Der Riese Agoag
Stand: 15.06.2010

Der Riese Agoag
Es gibt viele Texte, auch viele epische Texte, auch sehr viele überflüssige
epische Texte:
Dieser Text gehört zu den Schlüsseltexten, von denen ich glaube, dass
sie in besonderem Maße erhaltenswert sind!
Es gibt ihn erstaunlicherweise nirgendwo im Internet; und dort gibt es
bekannterweise sehr Vieles!
Zu 99 % Überflüssiges!
Für mich war es ein Schlüsselerlebnis, als unser Fachleiter in Deutsch
(Dr. Zobel, den ich immer noch unglaublich beeindruckend finde)
uns (oh wie peinlich: nach dem Studium) fragte, worum es in diesem
Text eigentlich gehen würde und wir Blöden es nicht herausfanden.
Nämlich um die Frage der Macht. Mittlerweile bin ich sicher, dass es auch
um den Typus des Machthabers geht!
Und das ist ein Thema, das immer aktuell ist!!



Wenn der Held dieser kleinen Erzählung — und wahrhaftig, er war
einer! — die Ärmel aufstreifte, kamen zwei Arme zum Vorschein,
die so dünn waren wie der Ton einer Spieluhr. Und die Frauen lobten
freundlich seine Intelligenz, aber sie „gingen" mit anderen, von denen
sie nicht so gleichmäßig freundlich sprachen. Nur eine einzige ansehn-
liche Schöne hatte ihn einmal, und zu aller Überraschung, tieferer
Teilnahme gewürdigt; aber sie liebte es, ihn mit zärtlichen Augen an-
zuschaun und dabei die Achseln zu zucken. Und nachdem sich das
kurze Schwanken in der Wahl von Koseworten gelegt hatte, das ge-
wöhnlich zu Beginn einer Liebe statthat, nannte sie ihn: „Mein Eich-
hörnchen!"
Darum las er in den Zeitungen nur den Sportteil, im Sportteil am
eifrigsten die Boxnachrichten und von den Boxnachrichten am liebsten
die über Schwergewichte.
Sein Leben war nicht glücklich; aber er ließ nicht ab, den Aufstieg zur
Kraft zu suchen. Und weil er nicht genug Geld hatte, in einen Kraft-
verein einzutreten, und weil Sport ohnedies nach neuer Auffassung
nicht mehr das verächtliche Talent eines Leibes, sondern ein Triumph
der Moral und des Geistes ist, suchte er diesen Aufstieg allein. Es gab
keinen freien Nachmittag, den er nicht dazu benutzte, auf den Zehen-
spitzen spazierenzugehen. Wenn er sich in einem Zimmer unbeob-
achtet wußte, griff er mit der rechten Hand hinter den Schultern vor-
bei nach den Dingen, die links von ihm lagen, oder umgekehrt. Das
An- und Auskleiden beschäftigte seinen Geist als die Aufgabe, es auf
die weitaus anstrengendste Weise zu tun. Und weil der menschliche
Körper zu jedem Muskel einen Gegenmuskel hat, so daß der eine
streckt, wenn der andere beugt, oder beugt, wenn jener streckt, gelang
es ihm", sich bei jeder Bewegung die unsagbarsten Schwierigkeiten zu
schaffen. Man kann wohl behaupten, daß er an guten Tagen aus zwei
völlig  fremden Menschen bestand, die einander unaufhörlich be-
kämpften. Wenn er aber nach solchem aufs beste ausgenutzten Tag ans
Einschlafen ging, so spreizte er alle Muskeln, deren er überhaupt hab-
haft werden konnte, noch einmal gleichzeitig auseinander; und dann
lag er in seinen eigenen Muskeln wie ein Stückchen fremdes Fleisch in
den Fängen eines Raubvogels, bis ihn Müdigkeit überkam, der Griff
sich löste und ihn senkrecht in den Schlaf fallen ließ. Es durfte nicht
ausbleiben, daß er bei dieser Lebensweise unüberwindlich stark werde.
Aber ehe das geschah, bekam er Streit auf der Straße und wurde von
einem dicken Schwamm von Menschen verprügelt.
Bei diesem schimpflichen Kampf nahm seine Seele Schaden, er wurde
niemals ganz so wie früher, und es war lange fraglich, ob er ein Leben
ohne alle Hoffnung werde ertragen können. Da rettete ihn ein großer
Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesenhafter Omnibus
einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr und dieser Unfall,
so tragisch für das Opfer, gestaltete sich für ihn zum Ausgangspunkt
eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abge-
schält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß
peinlich berührt zur Seite wich, stehenblieb und aus vielen Augen
zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm
rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein.
Das war nun so, und von Stund an blieb es auch so: Für fünfzehn
Pfennige durfte er, wann immer er wollte, in den Leib eines Riesen
kriechen, vor dem alle Sportsleute zur Seite springen mußten. Der
Riese hieß Agoag. Das bedeutete vielleicht Allgemeingeschätzte-
Omnibus-Athleten-Gesellschaft; denn wer heute noch Märchen erleben
will, darf mit der Klugheit nicht ängstlich umgehn. Unser Held saß
also auf dem Verdeck und war so groß, daß er alles Gefühl für die
Zwerge verlor, die auf der Straße wimmelten. Unvorstellbar wurde,
was sie miteinander zu besprechen hatten. Er freute sich, wenn sie aufge-
schreckt hopsten. Er schoß, wenn sie die Fahrbahn überquerten,
auf sie los wie ein großer Köter auf Spatzen. Er sah auf die Dächer
der schmucken Privatwagen, die ihn früher immer durch ihre Vor-
nehmheit eingeschüchtert hatten, jetzt im Bewußtsein der eigenen
Zerstörungskraft, ungefähr so herab, wie ein Mensch, mit einem Mes-
ser in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof blickt.
Es brauchte aber durchaus nicht viel Einbildung dazu, sondern bloß
logisches Denken. Denn wenn es richtig ist, was man sagt, daß Kleider
Leute machen, weshalb sollte das nicht auch ein Omnibus können?
Man hat seine ungeheuerliche Kraft an oder um, wie ein anderer einen
Panzer anlegt oder ein Gewehr umhängt; und wenn sich die ritterliche
Heldenschaft mit einem schützenden Panzer vereinen läßt, weshalb
dann nicht auch mit einem Omnibus? Und gar die großen Kraftnaturen
der Weltgeschichte: war denn ihr schwacher, von den Bequemlich-
keiten der Macht verwöhnter Leib das Furchtbare an ihnen, oder
waren sie unüberwindlich durch den Apparat der Macht, mit dem sie
ihn zu umgeben wußten? Und was ist es, dachte unser Mann, in seinem
neuen Gedankenkreis thronend, mit allen den Edelleuten des Sports,
welche die Könige des Boxens, Laufens und Schwimmens als Höf-
linge umgeben, vom Manager und Trainer bis zum Mann, der die
blutigen Eimer wegträgt oder den Bademantel um die Schultern legt;
verdanken diese zeitgenössischen Nachfolger der alten Truchsessen
und Mundschenken ihre persönliche Würde ihrer eigenen oder den
Strahlen einer fremden Kraft? Man sieht, er hatte sich durch einen
Unfall vergeistigt.
Er benutzte nun jede freie Stunde nicht mehr zum Sport, sondern zum
Omnibusfahren. Sein Traum war ein umfassendes Streckenabonne-
ment. Und wenn er es erreicht hat, und nicht gestorben, erdrückt,
überfahren worden, abgestürzt oder in einem Irrenhaus ist, so fährt
er damit noch heute. Allerdings, einmal ging er zu weit und nahm
auf seine Fahrten eine Freundin mit, in der Erwartung, daß sie gei-
stige Männerschönheit zu würdigen wisse. Und da war in dem Riesen-
leib ein winziger Parasit mit dicken Schnurrbartspitzen, der lächelte
die Freundin einigemal frech an, und sie lächelte kaum merklich zu-
rück; ja, als er ausstieg, streifte er sogar versehentlich an sie und schien
ihr dabei etwas zuzuflüstern, während er sich vor allen ritterlich ent-
schuldigte. Unser Held kochte vor Wut; er hätte sich gerne auf den
Nebenbuhler gestürzt, aber so klein dieser neben dem Riesen Agoag
ausgesehen hätte, so groß und breit erschien er darin. Da blieb unser
Held sitzen und überhäufte nur später seine Freundin mit Vorwürfen.
Aber, siehe, obgleich er sie in seine Anschauungen eingeweiht hatte,
erwiderte sie nicht: Ich mache mir nichts aus starken Männern, ich
bewundere Kraftomnibusse! sondern sie leugnete einfach.
Seit diesem geistigen Verrat, der auf die geringere Verstandeskühnheit
der Frau zurückzuführen ist, schränkte unser Held seine Fahrten
etwas ein, und wenn er sie antrat, so geschah es ohne weibliche Be-
gleitung. Ihm ahnte ein wenig von der männlichen Schicksalswahrheit,
die in dem Ausspruch liegt: Der Starke ist am mächtigsten allein!

Robert Musil