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23.05.2018

. / .Deutsch / Epik / epische Texte / Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel
Stand: 22.09.2010

Der Tunnel - Friedrich Dürrenmatt

Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das
Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah
(das war seine Fähigkeit, vielleicht seine
einzige)
, nicht allzu nah an ihn herankomme, der
es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch
gerade durch sie das Ungeheuerliche
hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass
er Zigarren rauchte (Ormond Brasil 10) und über
seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille
und in den Ohren Wattebüschel: Dieser junge
Mann, noch von seinen Eltern abhängig und mit
nebulosen Studien auf einer Universität
beschäftigt, die in einer zweistündigen Bahnfahrt
zu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags
in den gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig,
Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig, um
anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu
schwänzen er schon entschlossen war. Die Sonne
schien an einem wolkenlosen Himmel, da er seinen
Heimatort verließ. Es war Sommer. Der Zug
hatte sich bei diesem unangenehmen Wetter
zwischen den Alpen und dem Jura
fortzubewegen, an reichen Dörfern und kleineren
Städten vorbei, später an einem Fluss entlang,
und tauchte denn auch nach noch nicht zwanzig
Minuten Fahrt, gerade nach Burgdorf in einen
kleinen Tunnel. Der Zug war überfüllt. Der
Vierundzwanzigjährige war vorne eingestiegen
und hatte sich mühsam nach hinten
durchgearbeitet, schwitzend und einen leicht
vertrottelten Eindruck erweckend. Die
Reisenden saßen dicht gedrängt, viele auf
Koffern, auch die Coupés der zweiten Klasse
waren besetzt, nur die erste Klasse schwach
belegt. Wie sich der junge Mann endlich durch
das Wirrwarr der Familien, Rekruten, Studenten
und Liebespaare gekämpft hatte, bald, vom Zug
hin und hergeschleudert, gegen diesen fallend
und bald gegen jenen, gegen Bäuche und Brüste
torkelnd, fand er im hintersten Wagen Platz, so
viel sogar, dass er in diesem Abteil der dritten
Klasse, in der es sonst Wagen mit Coupés selten
gibt, eine ganze Bank für sich allein hatte: Im
geschlossenen Raume saß ihm gegenüber einer,
noch dicker als er, der mit sich selbst Schach
spielte, und in der Ecke der gleichen Bank,
gegen den Korridor zu, ein rothaariges Mädchen,
das einen Roman las. So saß er schon am Fenster
und hatte eben eine Ormond Brasil 10 in Brand
gesteckt, als der Tunnel kam, der ihm länger als
sonst zu dauern schien.
Er war diese Strecke schon manchmal gefahren,
fast jeden Samstag und Sonntag seit einem Jahr
und hatte den Tunnel eigentlich gar nie beachtet,
sondern immer nur geahnt. Zwar hatte er ihm einige
Male die volle Aufmerksamkeit schenken wollen,
doch hatte er, wenn er kam, jedes Mal an etwas
anderes gedacht, so dass er das kurze Eintauchen
in die Finsternis nicht bemerkte, denn der Tunnel
war eben gerade vorbei, wenn er, entschlossen,
ihn zu beachten, aufschaute, so schnell durchfuhr
ihn der Zug, und so kurz war der kleine Tunnel.

So hatte er denn auch jetzt die Sonnenbrille nicht
abgenommen, als sie einfuhren, da er nicht an
den Tunnel dachte. Die Sonne hatte eben noch
mit voller Kraft geschienen, und die Landschaft,
durch die sie fuhren, die Hügel und Wälder, die
fernere Kette des Juras und die Häuser des
Städtchens, war wie von Gold gewesen, so sehr
hatte alles im Abendlicht geleuchtet, so sehr,
dass ihm die nun schlagartig einsetzende
Dunkelheit des Tunnels bewusst wurde, der
Grund wohl auch, warum ihm die Durchfahrt
länger erschien, als er sie sich dachte. Es war
völlig finster im Abteil, da der Kürze des
Tunnels wegen die Lichter nicht in Funktion
gesetzt waren, denn jede Sekunde musste sich ja
in der Scheibe der erste, fahle Schimmer des
Tages zeigen, sich blitzschnell ausweiten und
mit voller, goldener Helle gewaltig hereinbrechen;
als es jedoch immer noch dunkel blieb, nahm
er die Sonnenbrille ab.
Das Mädchen zündete sich in diesem Augenblick
eine Zigarette an, offenbar ärgerlich, dass es im
Roman nicht weiterlesen konnte, wie er im
rötlichen Aufflammen des Streichholzes zu
bemerken glaubte; seine Armbanduhr mit dem
leuchtenden Zifferblatt zeigte zehn nach sechs.
Er lehnte sich in die Ecke zwischen der
Coupéwand und der Scheibe und beschäftigte
sich mit seinen verworrenen Studien, die ihm
niemand recht glaubte, mit dem Seminar, in das
er morgen musste und in das er nicht gehen
würde (alles, was er tat, war nur ein Vorwand,
hinter der Fassade seines Tuns Ordnung zu
erlangen, nicht die Ordnung selber, nur die
Ahnung einer Ordnung, angesichts des
Schrecklichen, gegen das er sich mit Fett
polsterte, Zigarren in den Mund steckte,
Wattebüschel in die Ohren)
, und wie er wieder
auf das Zifferblatt schaute, war es viertel nach
sechs und immer noch der Tunnel. Das verwirrte
ihn. Zwar leuchteten nun die Glühbirnen auf, es
wurde hell im Coupé, das rote Mädchen konnte
in seinem Roman weiterlesen, und der dicke
Herr spielte wieder mit sich selber Schach, doch
draußen, jenseits der Scheibe, in der sich nun das
ganze Abteil spiegelte, war immer noch der
Tunnel. Er trat in den Korridor, in welchem ein
hochgewachsener Mann in einem hellen
Regenmantel auf und ab ging, ein schwarzes
Halstuch umgeschlagen. Wozu auch bei diesem
Wetter, dachte er und schaute in die anderen
Coupés dieses Wagens, wo man Zeitung las und
miteinander schwatzte. Er trat wieder zu seiner
Ecke und setzte sich, der Tunnel musste nun
jeden Augenblick aufhören, jede Sekunde; auf
der Armbanduhr war es nun beinahe zwanzig
nach; er ärgerte sich, den Tunnel vorher so
wenig beachtet zu haben, dauerte er doch nun
schon eine Viertelstunde und musste, wenn die
Geschwindigkeit eingerechnet wurde, mit
welcher der Zug fuhr, ein bedeutender Tunnel
sein, einer der längsten Tunnel der Schweiz. Es
war daher wahrscheinlich, dass er einen falschen
Zug genommen hatte, wenn ihm im Augenblick
auch nicht erinnerlich war, dass sich zwanzig
Minuten Bahnfahrt von seinem Heimatort aus
ein so langer und bedeutender Tunnel befand. Er
fragte deshalb den dicken Schachspieler, ob der
Zug nach Zürich fahre, was der bestätigte. Er
wüsste gar nicht, dass an dieser Stelle der
Strecke ein so langer Tunnel sei, sagte der junge
Mann, doch der Schachspieler antwortete, etwas
ärgerlich, da er in irgendeiner schwierigen
Überlegung zum zweiten Mal unterbrochen
wurde, in der Schweiz gebe es eben viele
Tunnel, außerordentlich viele, er reise zwar zum
ersten Mal in diesem Lande, doch falle dies
sofort auf, auch habe er in einem statistischen
Jahrbuch gelesen, dass kein Land so viele Tunnel
wie die Schweiz besitze. Er müsse sich nun
entschuldigen, wirklich, es tue ihm schrecklich
leid, da er sich mit einem wichtigen Problem der
Nimzowitsch-Verteidigung beschäftige und nicht
mehr abgelenkt wer den dürfe. Der
Schachspieler hatte höflich, aber bestimmt
geantwortet; dass von ihm keine Antwort zu
erwarten war, sah der junge Mann ein.

Er war froh, als nun der Schaffner kam. Er war
überzeugt, dass seine Fahrkarte zurückgewiesen
würde; auch als der Schaffner, ein blasser,
magerer Mann, nervös, wie es den Eindruck
machte, dem Mädchen gegen über, dem er zuerst
die Fahrkarte abnahm, bemerkte, es müsse in
Olten umsteigen, gab der Vierundzwanzigjährige
noch nicht alle Hoffnung auf, so sehr war er
überzeugt, in den falschen Zug gestiegen zu sein.
Er werde wohl nachzahlen müssen, er sollte nach
Zürich, sagte er denn, ohne die Ormond Brasil
10 aus dem Munde zu nehmen, und reichte dem
Schaffner das Billett hin. Der Herr sei im rechten
Zug, antwortete der, wie er die Fahrkarte geprüft
hatte. Aber wir fahren doch durch einen Tunnel!
rief der junge Mann ärgerlich und recht
energisch aus, entschlossen, nun die verwirrende
Situation aufzuklären. Man sei eben an
Herzogenbuchsee vorbeigefahren und nähere
sich Langenthal, sagte der Schaffner. Es stimmt,
mein Herr, es ist jetzt zwanzig nach sechs. Aber
man fahre seit zwanzig Minuten durch einen
Tunnel, beharrte der junge Mann auf seiner
Feststellung. Der Schaffner sah ihn
verständnislos an. Es ist der Zug nach Zürich,
sagte er und schaute nun auch nach dem Fenster.
Zwanzig nach sechs, sagte er wieder, jetzt etwas
beunruhigt, wie es schien, bald kommt Olten,
Ankunft achtzehnuhrsiebenunddreißig. Es wird
schlechtes Wetter gekommen sein, ganz
plötzlich, daher die Nacht, vielleicht ein Sturm,
ja, das wird es sein. Unsinn, mischte sich nun der
Mann, der sich mit einem Problem der
NimzowitschVerteidigung beschäftigte, ins
Gespräch, ärgerlich, weil er immer noch sein
Billett hinhielt, ohne vom Schaffner beachtet zu
werden, Unsinn, wir fahren durch einen Tunnel.
Man kann deutlich den Fels sehen, Granit, wie es
scheint. In der Schweiz gibt es die meisten
Tunnel der ganzen Welt. Ich habe es in einem
statistischen Jahrbuch gelesen. Der Schaffner,
indem er endlich die Fahrkarte des
Schachspielers entgegennahm, versicherte aufs
neue, fast flehentlich, der Zug fahre nach Zürich,
worauf der Vierundzwanzigjährige den
Zugführer verlangte. Der sei vorne im Zug, sagte
der Schaffner, im übrigen fahre der Zug nach
Zürich, jetzt sei es sechsuhrfünfundzwanzig und
in zwölf Minuten werde er nach dem
Sommerfahrplan in Olten anhalten, er fahre jede
Woche diesen Zug dreimal.
Der junge Mann machte sich auf den Weg.
Das Gehen fiel ihm noch schwerer im überfüllten Zug
als vor kurzem, wie er die gleiche Strecke umgekehrt
gegangen war; der Zug musste überaus schnell
fahren; auch war das Getöse, das er dabei
verursachte, entsetzlich; so steckte er sich seine
Wattebüschel denn wieder in die Ohren,
nachdem er sie beim Betreten des Zuges entfernt
hatte.
Die Menschen, an denen er vorbei kam,
verhielten sich ruhig, in nichts unterschied sich
der Zug von anderen Zügen, die er an den
Sonntagnachmittagen gefahren war, und
niemand fiel ihm auf, der beunruhigt gewesen
wäre. In einem Wagen mit Zweitklassabteilen
stand ein Engländer am Fenster des Korridors
und tippte freudestrahlend mit der Pfeife, die er
rauchte, an die Scheibe. Simplon, sagte er. Auch
im Speisewagen war alles wie sonst, obwohl
kein Platz frei war und der Tunnel doch einem
der Reisenden oder der Bedienung, die
Wienerschnitzel und Reis servierten, hätte
auffallen können.
Den Zugführer, den er an der roten Tasche erkannte,
fand der junge Mann am Ausgang des Speisewagens.
Sie wünschen?
fragte der Zugführer, der ein großgewachsener,
ruhiger Mann war, mit einem sorgfältig
gepflegten schwarzen Schnurrbart und einer
randlosen Brille. Wir sind in einem Tunnel, seit
fünfundzwanzig Minuten, sagte der junge Mann.
Der Zugführer schaute nicht nach dem Fenster,
wie der Vierundzwanzigjährige erwartet hatte,
sondern wandte sich zum Kellner. Geben Sie mir
eine Schachtel Ormond 10, sagte er, ich rauche
die gleiche Sorte wie der Herr da; doch konnte
ihn der Kellner nicht bedienen, da man diese
Zigarre nicht besaß, so dass denn der junge
Mann, froh, einen Anknüpfungspunkt zu haben,
dem Zugführer eine Brasil anbot. Danke, sagte
er, ich werde in Olten kaum Zeit haben, mir eine
zu verschaffen, und so tun Sie mir denn einen
großen Gefallen. Rauchen ist wichtig. Darf ich
Sie nun bitten, mir zu folgen?
Er führte den Vierundzwanzigjährigen in den Packwagen,
der vor dem Speisewagen lag. Dann kommt noch die
Maschine, sagte der Zugführer, wie sie den
Raum betraten, wir befinden uns an der Spitze
des Zuges. Im Packraum brannte ein schwaches,
gelbes Licht, der größte Teil des Wagens lag im
Ungewissen, die Seitentüren waren verschlossen,
und nur durch ein kleines vergittertes Fenster
drang die Finsternis des Tunnels. Koffer standen
herum, viele mit Hotelzetteln beklebt, einige
Fahrräder und ein Kinderwagen.

Der Zugführer hing seine rote Tasche an einen Haken.
Was wünschen Sie? fragte er aufs neue, schaute
jedoch den jungen Mann nicht an, sondern
begann in einem Heft, das er der Tasche
entnommen hatte, Tabellen auszufüllen. Wir
befinden uns seit Burgdorf in einem Tunnel,
antwortete der Vierundzwanzigjährige
entschlossen, einen so gewaltigen Tunnel gibt es
auf dieser Strecke nicht, ich fahre sie jede
Woche hin und zurück, ich kenne die Strecke.
Der Zugführer schrieb weiter. Mein Herr, sagte
er endlich und trat nah an den jungen Mann
heran, so nah, dass sich die beiden Leiber fast
berührten, mein Herr, ich habe Ihnen wenig zu
sagen. Wie wir in diesen Tunnel geraten sind,
weiß ich nicht, ich habe dafür keine Erklärung.
Doch bitte ich Sie zu bedenken: Wir bewegen
uns auf Schienen, der Tunnel muss also
irgendwo hinführen. Nichts beweist, dass am
Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, außer
natürlich, dass er nicht aufhört.

Der Zugführer, die Ormond Brasil immer noch,
ohne zu rauchen, zwischen den Lippen, hatte überaus
leise gesprochen, jedoch mit so großer Würde
und so deutlich und bestimmt, dass seine Worte
vernehmbar waren, obgleich im Packwagen das
Tosen des Zuges um vieles stärker war als im
Speisewagen.
Dann bitte ich Sie, den Zug anzuhalten,
sagte der junge Mann ungeduldig, ich verstehe
kein Wort von dem, was Sie sagen.
Wenn etwas nicht stimmt mit diesem Tunnel,
dessen Vorhandensein Sie selbst nicht erklären
können, haben Sie den Zug anzuhalten. Den Zug
anhalten? antwortete der andere langsam,
gewiss, daran habe er auch schon gedacht,
worauf er das Heft schloss und in die rote Tasche
zurück steckte, die an ihrem Haken hin und her
schwankte, dann steckte er die Ormond
sorgfältig in Brand.
Ob er die Notbremse ziehen solle,
fragte der junge Mann und wollte nach
dem Haken der Bremse über seinem Kopf
greifen, torkelte jedoch im selben Augenblick
nach vorne, wo er an die Wand prallte. Ein
Kinderwagen rollte auf ihn zu, und Koffer
rutschten heran; seltsam schwankend kam auch
der Zugführer mit vorgestreckten Händen durch
den Packraum.
Wir fahren abwärts, sagte der Zugführer und
lehnte sich neben dem Vierundzwanzigjährigen
an die Vorderwand des Wagens, doch kam der
erwartete Aufprall des rasenden Zuges am Fels
nicht, dieses Zerschmettern und Ineinanderschachteln
der Wagen, der Tunnel schien vielmehr wieder eben
zu verlaufen. Am andern Ende des Wagens
öffnete sich die Türe. Im grellen Licht des
Speisewagens sah man Menschen, die einander
zutranken, dann schloss sich die Türe wieder.

Kommen Sie in die Lokomotive, sagte der Zugführer
und schaute dem Vierundzwanzigjährigen nachdenklich
und, wie es plötzlich schien, seltsam drohend ins Gesicht,
dann schloss er die Türe auf, neben der sie an der
Wand lehnten: Mit solcher Gewalt jedoch schlug
ihnen ein sturmartiger, heißer Luftstrom
entgegen, dass sie von der Wucht des Orkans
aufs neue gegen die Wand taumelten;
gleichzeitig erfüllte ein fürchterliches Getöse den
Packwagen.
Wir müssen zur Maschine hinüberklettern,
schrie der Zugführer dem jungen Mann ins Ohr,
auch so kaum vernehmbar, und verschwand dann
im Rechteck der offenen Türe, durch die man die
hell erleuchteten, hin und her schwankenden Scheiben
der Zugmaschine sah.
Der Vierundzwanzigjährige folgte entschlossen,
wenn er auch den Sinn der Kletterei nicht
begriff. Die Plattform, die er betrat, besaß auf
beiden Seiten ein Eisengeländer, woran er sich
klammerte, doch war nicht der ungeheure
Luftzug das Entsetzliche, der sich milderte, wie
er sich der Maschine zu bewegte, sondern die
unmittelbare Nähe der Tunnelwände, die er zwar
nicht sah, da er sich ganz auf die Maschine
konzentrieren musste, die er jedoch ahnte,
durchzittert vom Stampfen der Räder und vom
Pfeifen der Luft, so dass ihm war, als rase er mit
Sterngeschwindigkeit in eine Welt aus Stein. Der
Lokomotive entlang lief ein schmales Band und
darüber als Geländer eine Stange, die sich in
immer gleicher Höhe über dem Band der
Maschine herumkrümmte:
Dies musste der Weg sein; den Sprung, den es zu
wagen galt, schätzte er auf einen Meter.
So gelang es ihm denn auch, die Stange zu fassen.
Er schob sich, gegen die Lokomotive gepresst,
dem Band entlang; fürchterlich wurde der Weg erst,
als er auf die Längseite der Maschine gelangte,
nun voll der Wucht des brüllenden Orkans ausgesetzt
und drohenden Felswänden, die, hell erleuchtet von
der Maschine, heranfegten.
Nur der Umstand, dass ihn der Zugführer durch eine
kleine Tür ins Innere der Maschine zog, rettete ihn.
Erschöpft lehnte sich der junge Mann gegen den
Maschinenraum, worauf es mit einem Male still
wurde, denn die Stahlwände der riesenhaften
Lokomotive dämpften, wie der Zugführer die
Türe geschlossen hatte, das Tosen so sehr ab,
dass es kaum mehr zu vernehmen war.
Die Ormond Brasil haben wir auch verloren, sagte
der Zugführer. Es war nicht klug, vor der
Kletterei eine anzuzünden, aber sie zerbrechen
leicht, wenn man keine Schachtel mit sich führt,
bei ihrer länglichen Form.
Der junge Mann war froh, nach der bedenklichen
Nähe der Felswände auf etwas gelenkt zu werden,
das ihn an die Alltäglichkeit erinnerte, in der er sich
noch vor wenig mehr denn einer halben Stunde befunden
hatte, an diese immergleichen Tage und Jahre
(immergleich, weil er nur auf diesen Augenblick
hinlebte, der nun erreicht war, auf diesen
Augenblick des Einbruchs, auf dieses plötzliche
Nachlassen der Erdoberfläche, auf den
abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere).
Er holte
eine der braunen Schachteln aus der rechten
Rocktasche und bot dem Zugführer erneut eine
Zigarre an, selber steckte er sich auch eine in den
Mund, und vorsichtig nahmen sie Feuer, das der
Zugführer bot.
Ich schätze diese Ormond sehr,  sagte der Zugführer,
nur muss einer gut ziehen, sonst gehen sie aus, Worte,
die den Vierundzwanzigjährigen misstrauisch machten,
weil er spürte, dass der Zugführer auch nicht
gern an den Tunnel dachte, der draußen immer
noch dauerte (immer noch die Möglichkeit, er
könnte plötzlich aufhören, wie ein Traum mit
einem Mal aufzuhören vermag).
Achtzehn Uhr
vierzig, sagte er, indem er auf seine Uhr mit dem
leuchtenden Zifferblatt schaute, jetzt sollten wir
doch schon in Olten sein, und dachte dabei an
die Hügel und Wälder, die doch noch vor
kurzem waren, goldüberhäuft in der sinkenden
Sonne. So standen sie und rauchten, an die Wand
des Maschinenraums gelehnt.
Keller ist mein Name, sagte der Zugführer und zog
an seiner Brasil. Der junge Mann gab nicht nach.
Die Kletterei auf der Maschine war nicht
ungefährlich, bemerkte er, wenigstens für mich,
der ich an dergleichen nicht gewöhnt bin, und so
möchte ich denn wissen, wozu Sie mich
hergebracht haben. Er wisse es nicht, antwortete
Keller, er habe sich nur Zeit zum Überlegen
schaffen wollen.
Zeit zum Überlegen, wiederholte der Vierundzwanzigjährige.

Ja, sagte der Zugführer, so sei es, rauchte dann wieder weiter.

Die Maschine schien sich von neuem nach vorne zu neigen.
Wir können ja in den Führerraum gehen, schlug Keller vor,
blieb jedoch immer noch unschlüssig an der
Maschinenwand stehen, worauf der junge Mann
den Korridor entlang schritt. Wie er die Türe
zum Führerraum geöffnet hatte, blieb er stehen.
Leer, sagte er zum Zugführer, der nun auch
herankam, der Führerstand ist leer.
Sie betraten den Raum, schwankend durch die ungeheure
Geschwindigkeit, mit der die Maschine, den Zug
mit sich reißend, immer weiter in den Tunnel
hineinraste. Bitte, sagte der Zugführer und
drückte einige Hebel nieder, zog auch die Notbremse.

Die Maschine gehorchte nicht.
Sie hätten alles getan, sie anzuhalten,
gleich als sie die Änderung in der Strecke bemerkt hätten,
versicherte Keller, doch sei die Maschine immer weitergerast.

Sie wird immer weiterrasen, antwortete der Vierundzwanzigjährige
und wies auf den Geschwindigkeitsmesser.
Hundertfünfzig.
Ist die Maschine je Hundertfünfzig gefahren?
Mein Gott, sagte der Zugführer, so schnell ist sie nie gefahren,
höchstens Hundertfünf.
Eben, sagte der junge Mann.
Ihre Schnelligkeit nimmt zu.
Jetzt zeigt der Messer Hundertachtundfünfzig.
Wir fallen.
Er trat an die Scheibe, doch konnte er sich nicht
aufrechterhalten, sondern wurde mit dem Gesicht
an die Glaswand gepresst, so abenteuerlich war
nun die Geschwindigkeit.
Der Lokomotivführer?
schrie er und starrte nach den Felsmassen, die in
das grelle Licht der Scheinwerfer hinaufstürzten,
ihm entgegen, die auf ihn zurasten und über ihm,
unter ihm und zu beiden Seiten des Führerraums
verschwanden.
Abgesprungen,
schrie Keller zurück, der nun mit dem Rücken gegen das
Schaltbrett gelehnt auf dem Boden saß.
Wann? fragte der Vierundzwanzigjährige hartnäckig.

Der Zugführer zögerte ein wenig und musste
sich seine Ormond aufs neue anzünden, die
Beine, da sich der Zug immer stärker neigte, in
der gleichen Höhe wie sein Kopf.
Schon nach fünf Minuten, sagte er dann.
Es war sinnlos, noch eine Rettung zu versuchen.
Der im Packraum ist auch abgesprungen.

Und Sie? fragte der Vierundzwanzigjährige.
Ich bin der Zugführer, antwortete der andere,
auch habe ich immer ohne Hoffnung gelebt.
Ohne Hoffnung, wiederholte der junge Mann,
der nun geborgen auf der Glasscheibe des Führerhauses lag,
das Gesicht über den Abgrund gepresst.
Da saßen wir noch in unseren Abteilen und wussten nicht,
dass schon alles verloren war, dachte er. Noch
hatte sich nichts verändert, wie es uns schien,
doch schon hatte uns der Schacht nach der Tiefe
zu aufgenommen, und so rasen wir denn wie die
Rotte Korah in unseren Abgrund.
Er müsse nun zurück, schrie der Zugführer,
in den Wagen wird die Panik ausgebrochen sein.
Alles wird sich nach hinten drängen.

Gewiss, antwortete der Vierundzwanzigjährige
und dachte an den dicken Schachspieler und an
das Mädchen mit seinem Roman und dem roten Haar.
Er reichte dem Zugführer seine übrigen Schachteln
Ormond Brasil 10. Nehmen Sie, sagte er, Sie
werden Ihre Brasil beim Hinüberklettern doch
wieder verlieren.
Ob er denn nicht zurückkomme, fragte der Zugführer,
der sich aufgerichtet hatte und mühsam den Trichter des
Korridors hinaufzukriechen begann.
Der junge Mann sah nach den sinnlosen Instrumenten, nach
diesen lächerlichen Hebeln und Schaltern, die
ihn im gleißenden Licht der Kabine silbern
umgaben. Zweihundertzehn, sagte er.
Ich glaube nicht, dass Sie es bei dieser Geschwindigkeit
schaffen, hinaufzukommen in die Wagen über
uns.
Es ist meine Pflicht, schrie der Zugführer.
Gewiss, antwortete der Vierundzwanzigjährige,
ohne seinen Kopf nach dem sinnlosen
Unternehmen des Zugführers zu wenden.

Ich muss es wenigstens versuchen, schrie der
Zugführer noch einmal, nun schon weit oben im
Korridor, sich mit Ellbogen und Schenkeln
gegen die Metallwände stemmend, doch wie sich
die Maschine weiter hinabsenkte, um nun in
fürchterlichem Sturz dem Innern der Erde
entgegenzurasen, diesem Ziel aller Dinge zu, so
dass der Zugführer in seinem Schacht direkt über
dem Vierundzwanzigjährigen hing, der am
Grunde der Maschine auf dem silbernen Fenster
des Führerraumes lag, das Gesicht nach unten,
ließ seine Kraft nach.
Der Zugführer stürzte auf  das Schaltbrett und
kam blutüberströmt neben den jungen Mann zu liegen,
dessen Schultern er umklammerte.
Was sollen wir tun? schrie der Zugführer durch
das Tosen der ihnenentgegenschnellenden
Tunnelwände hin durch dem Vierundzwanzigjährigen
ins Ohr, der mit seinem fetten Leib, der jetzt nutzlos war
und nicht mehr schützte, unbeweglich auf der ihn
vom Abgrund trennenden Scheibe ruhte und
durch sie hindurch den Abgrund gierig in seine
nun zum ersten Male weit geöffneten Augen sog.

Was sollen wir nun tun?

Nichts, antwortete der andere unbarmherzig,
ohne sein Gesicht vom tödlichen Schauspiel abzuwenden,
doch nicht ohne eine gespensterhafte Heiterkeit, von
Glassplittern über sät, die von der zerbrochenen
Schalttafel herstammten, während zwei
Wattebüschel, durch irgendeinen Luftzug
ergriffen, der nun plötzlich hereindrang (in der
Scheibe zeigte sich ein erster Spalt)
, pfeilschnell
nach oben in den Schacht über ihnen fegte.

Nichts.
Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir
denn auf ihn zu.