. / Aktuelles / Vergleich der Gebrüder Stockmann aus Ibsens Drama „Ein Volksfeind“ Stand: 30.01.2011 ↵
Vergleich der Gebrüder Stockmann
In dem Drama „Ein Volksfeind“ baut Henrik Ibsen die Charakterzüge der verbrüderten Protagonisten Dr. Thomas Stockmann und Stadtvogt Peter Stockmann auf starken Gegensätzlichkeiten auf und schafft so ein Verwandtschaftsbild, das von einem Kampf zwei verschiedener Ideale und konträrer Moralvorstellungen geprägt ist.
Thomas, der jüngere der beiden Brüder, ist leitender Arzt des Badekurortes und veröf-fentlicht nebenberuflich populärwissenschaftliche Artikel in der Stadtzeitung „Volksbote“. Bereits im ersten Akt wird seine gesellige („es ist mir ein Lebensbedürfnis, mit jungen, frischen, unbekümmerten Leuten, mit frei denkenden, unternehmungslustigen Leuten zusammen zu sein“) und leichtlebige („ich bin so froh und vergnügt.“) Persönlichkeit herausgestellt, indem er gastfreundlich zum Abendessen einlädt und auch spontan seinen Bruder zu Tisch bittet. Er geht generös mit seinen Finanzen um (Essen/ Einrichtung) und genießt sein Dasein in vollen Zügen.
Peter bekleidet das Amt des Vorsitzenden der Badeverwaltung, des Polizeidirektors und des Stadtvogtes. Im Gegensatz zu Thomas, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern zusam-men lebt, ist Peter alleinstehend. Er weist subtil pedantische Züge auf und legt Wert auf eine gesunde Ernährung und Sparsamkeit (Tee und Butterbrot, „ein bisschen haushälterischer“). Peter schätzt sein gesellschaftliches Ansehen und seinen herausgehobenen sozialen Status, den er des Öfteren innerhalb eines Gespräches explizit betont. Als Honoratior verleugnet er seinen „unvorteilhaften“, plebejischen Familienhintergrund und missbilligt diese soziale Klasse („Es ist was Merkwürdiges mit den Leuten, die direkt von Bauern abstammen; taktlos sind und bleiben sie nun einmal.“).
Als erfolgreicher und engagierter Politiker, verfügt der Stadtvogt über eine gut ausgeprägte Menschenkenntnis und versteht sich darauf, seine Mitmenschen für seine Zwecke zu manipulieren („die öffentliche Meinung ist „ein überaus variables Ding“). Für ihn ist es vorteilhaft, wenn das Volk ungebildet auf dem Status quo verweilt („Ach, das Publikum braucht gar keine neuen Gedanken. Dem Publikum ist am besten mit den alten, guten, anerkannten Gedanken gedient, die es schon hat“). In dieser Hinsicht ist er Thomas überlegen, der sich selbst zwar als „Mann der Wissenschaft“ ansieht, bei allem Intellekt jedoch ein naives Urteilvermögen besitzt. Sein Idealismus und Optimismus führen zu einer Verblendung seiner Umgebung. So schenkt er den freisinnigen Floskeln von Billing und Hovstad Glauben und vertraut sich seinen „Verbündeten“ an.
Die Entschlossenheit, ihre Überzeugungen durchzusetzen, ist jedoch bei beiden Brüdern gleich stark ausgeprägt. Allerdings bedienen sie sich hier unterschiedlicher Mittel. Thomas ist hier weniger beherrscht und reagiert cholerisch („Du hast eine unruhige, streitbare, aufrührerische Gemütsart.“). Er gerät schnell in Rage und neigt in seinem aufbrausendem Enthusiasmus zu Übertreibungen. Er verwendet Kraftausdrücke („Eine Partei, die ist wie eine Fleischhackmaschine; darin werden alle Köpfe zu einem Brei zerrieben; und deshalb sind sie auch alle Schwachköpfe und Flachköpfe, einer wie der andere.“) und Zynik und gibt seinen Worten nicht nur verbal, sondern auch durch aktive Gewaltandrohungen (vgl. letzter Akt) Nachdruck.
Peter hingegen ist selbstbeherrscht. Er bedient sich einer betont sachlichen Amtssprache, die von Nominalisierungen und den Gebrauch von Fremdworten und Fachbegriffen geprägt ist. Darüber hinaus hebt er seine Autorität mit Erwähnen seiner Betitelungen explizit heraus („ich, als Vorsitzender der Badeverwaltung“ oder „ich, dein oberster Vorgesetzter“).Dies lässt zum einen vermuten, dass er sich von seinem plebejischen Familienhintergrund abgrenzen will, zum anderen scheint es, als stütze seine Selbstsicherheit und Würde ausschließlich auf seine einflussreiche Position. In dieser Beziehung wäre er Thomas unterlegen, dessen Verhalten seinen starken Willen und sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein manifestiert.
Der gravierendste Unterschied der beiden Brüder jedoch besteht in ihrer Ideologie. Peter repräsentiert die skrupellose und egoistische Autorität, die sich opportunistisch der Situation anpasst, um die eigene Machtposition zu konservieren. So vermeidet er beispielsweise unnö-tigen Kontakt mit dem Redakteur und Buchdrucker des „Volksboten“, verbündet sich jedoch mit ihnen, um zu verhindern, dass der Doktor seinen Artikel drucken kann. Auch seinen Bru-der versucht er mit seiner Vorrangstellung zu kontrollieren („Es war immer meine Hoffnung, dich einigermaßen im Zaume halten zu können, wenn ich dir beistand, deine ökonomische Stellung zu verbessern.“).
Peter ist ein Materialist, geleitet durch Profitdenken. Für ihn steht der kommerzielle und wirtschaftliche Nutzen im Vordergrund. So ist er nicht an der Gesundheit der Badegäste interessiert, sondern an dem finanziellen Schaden, der durch die Veröffentlichung des Artikels entstehen würde. Folglich fühlt er sich für die Bürger der Stadt verantwortlich – nicht für die Badegäste.
Thomas hingegen repräsentiert den Freidenker und Philanthropen. Er kämpft altruistisch für das Wohlergehen der Badegäste und stellt dieses über den finanziellen, lokalen Schaden, der dadurch entsteht.
Des Weiteren tritt er als Wissenschaftler für die Wahrheit und Freiheit ein und fordert für das Volk Bildung und Fortschritt. Er hat ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis, handelt nach seinen persönlichen Moralvorstellungen und nicht für materiellen Ziele. Seine Überzeugung setzt er als absolut richtig („Was ich tue, tue ich im Namen der Wahrheit und um meines Gewissens willen.“) und als nicht diplomatisch diskutierbar (auch seine Frau kann ihn nicht überzeugen an das Wohl ihrer Familie zu denken).
Er stellt die Systemfrage, indem er die Paradoxie des Demokratie und die Politik als Sammelplatz feiger Opportunisten herausstellt. In seiner Rede übt er Kritik an den Vertretern der lokalen Obrigkeit und an der „Masse“, die sich von Autoritäten manipulieren ließe und keine individuellen Meinungen mehr beinhalte. Die „geschlossene Mehrheit“ sei der „gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit“.
Somit stellt Ibsen zwei divergente Systeme puristisch in Form dieser beiden Menschen dar und schafft einen zweidimensionalen Konflikt: den der Brüder untereinander und den übergeordneten, politischen Konflikt.