Ich gestehe: Anfangs war ich ein absoluter Fan unserer Bundeskanzlerin. Sie war authentisch, überzeugend in ihrer Biografie, logisch und scharfsinnig, etwas missglückt in der Präsentation - wir hatten sie ja nicht als „model” gewählt -, aber als Mensch beeindruckend. Ein Mensch, der eine abgeschlossene Berufsausbildung hatte, ein Mensch, der in eben diesem Beruf auch gearbeitet hatte - also kein Berufs-Politiker, der nichts anderes kann als nichts -, ein Mensch, der sogar einen Doktor-Titel in Physik hat. Respekt!
Nur um das klarzustellen: Vor einem medizinischen Doktortitel habe ich einen deutlich geringeren Respekt.
Darüber hinaus ist sie Bundeskanzlerin! Man beachte: Sie ist eine Frau, so gesehen ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Endlich eine Chance, den Nimbus des Bösen loszuwerden.
Als Frau beweist sie auch den Fortschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland, der nicht gleichgesetzt werden darf mit einigen fragwürdigen Vorstellungen vieler Emanzen.
Und sie scheint sehr viel politischen Instinkt zu besitzen bezüglich des politisch Machbaren.
Andererseits hat sie lange Zeit den Eindruck erweckt, gewisse politische Probleme nur „auszusitzen”; gleichsam als „Erfolgsmodell” ihres „Ziehvaters” Kohl.
Und sie hat die Kapitalmärkte anfangs wohl nicht verstanden: Deren brutalen Egoismus in der Zielsetzung einer Gewinnmaximierung um jeden Preis: Ihre Vertreter sind viel schlimmer als Faust; sein Ansinnen war verständlicher Erkenntnisgewinn - deren Ansinnen ist viel widerlicher, also im Sinne Mephistos nur materieller Lustgewinn, sie beschränken sich auf die kleine Welt.
Lange Zeit war ich enttäuscht, da viele Entscheidungen für mich wenig überzeugend waren: z. B. die Verlängerung der Laufzeiten für Atom-Kraftwerke oder dieser Pragmatismus in der Übernahme gewisser Forderungen der FDP (z. B. steuerlicher Privilegien für Hotels) oder die Akzeptanz französischer Interessen.
Nunmehr bin ich erneut gespannt, da plötzlich Forderungen der Grünen bezüglich des Atomausstiegs übererfüllt worden sind,
da plötzlich ein dreigliedriges Schulsystem infrage gestellt wird,
die Wehrpflicht „de facto” abgeschafft wird (auch ein Beitrag zur Gleichberechtigung des Mannes)
und der Mindestlohn auch kein Tabu mehr zu sein scheint.
Verkehrte Welt?
Hat der Ossi Merkel den kapitalistischen Westen nur subtil unterwandert?
Ist das im Gegenteil nur eine moderne Variante der Bismarck'schen Sozialpolitik?
Wenn sie denn ein Maulwurf sein sollte, dann aber ein sehr sympathischer.