Endlich habe ich meine alte Interpretation zum Panther wiedergefunden - nach zähem Suchen und der Entdeckung von längst Vergessenem -, sodass hier eine konkrete Umsetzung einer integrativen und werkimmanenten Interpretation eines lyrischen Textes vorliegt. Auch eine gegliederte Interpretation hat ihre Berechtigung, aber sie zeigt ihre Begrenztheit, da vernetztes Denken auch eine integrative Methodik voraussetzt. In der gebotenen Eile und der Notwendigkeit ein fast verblichenes Blatt einzuscannen und eine OCR-Software darüber zu schicken ist zunächst mit einigen Fehlern zu rechnen.
Gedichtinterpretation zu: „Der Panther“
In dem vorliegenden lyrischen Text „Der Panther", verfasst von Rainer Maria Rilke und 1903 erschienen, wird der unmittelbare Kontakt des Betrachters mit dem Tier auch durch den Untertitel „Im Jardin des Plantes, Paris" bekundet.
Bereits ohne die Überschrift wird dem Leser beim erstmaligen Lesen deutlich, dass es sich hier um ein katzenartiges Raubtier handelt - „Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte" -, das unentwegt in einem Käfig kreist. Die Gleichförmigkeit der Tierbewegungen findet eine Parallele im regelmäßigen Aufbau des Gedichts mit drei Strophen zu je vier Versen.
Die erste Strophe vermittelt den Eindruck einer unsagbaren Müdigkeit: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, daß er nichts mehr hält."
Diese inhaltliche Aussage wird durch die komprimierte Reihung der ä-Vokale (Stäbe, hält, Stäbe gäbe, Stäben) und dem klanggleichen e-Vokal (Welt) noch sprachlich verstärkt. Die Müdigkeit und die daraus folgende Haltlosigkeit und Leere des Blicks findet ihre Ursache in einer scheinbar endlosen Reihung von Stäben. Das Moment der Unendlichkeit wird sprachlich durch die Wiederholung „tausend“ Stäbe im 3. und 4. Vers versinnbildlicht. Die Welt des Panthers, die grenzenlose Freiheit in der Natur, scheint für das Tier nicht mehr zu existieren. Selbst seine Erinnerung an eine solche Welt ist erloschen. Ein fünfhebiger Jambus verstärkt den Eindruck der Monotonie und die Trostlosigkeit einer der Freiheit beraubten Kreatur. Das lyrische Subjekt dringt durch den „Blick“ in das Innere des Panthers ein, erfährt seine Empfindungen und teilt sie mit.
In der zweiten Strophe nimmt das lyrische Subjekt den Standort des Außenbeobachters ein und gibt den Eindruck des äußeren Erscheinungsbildes des Tieres wieder, was sich auch in der Konzentrierung der Adjektive (sechs Adjektive im Gegensatz zu einem Adjektiv in der ersten und zwei Adjektiven in der dritten Strophe) zeigt. Die Trostlosigkeit des Innenlebens des Tieres steht in scharfem Kontrast zu der Eleganz, Kraft und Vitalität, die der Körper des Panthers ausstrahlt: „geschmeidig starker Schritte“ und „Tanz von Kraft". Die Harmonie der Bewegungen spiegelt sich wider in einer Reihe von Assonanzen (weiche, geschmeidig, -kleinsten, Kreise / Gang, starker, aller-, Tanz, Kraft) im Verbund mit Alliterationen (Gang geschmeidig starker Schritte, -kleinsten Kreise). Zugleich ist die Konzentrierung auf wenige gleiche Vokale und Konsonanten formales Stützungselement für die kreisende. Bewegung des Panthers um eine imaginäre „Mitte“. Das Bild der Unendlichkeit tritt hier im Kreissymbol wieder auf. Die zunächst überaus positive Darstellung des Tieres ist in sich jedoch bereits gebrochen; die Gangart des Panthers wird im zweiten Vers bereits auf den „allerkleinsten“ Kreis reduziert, und der damit verbundene Vergleich „Tanz von Kraft“ konzentriert sich auf das eigene Willenszentrum. Der machtvolle Körper des Panthers kreist um seinen ohnmächtigen „betäubt“(en) Willen und offenbart damit letztlich die Sinnlosigkeit seiner Existenz.
In der dritten Strophe dringt das lyrische Subjekt wieder ins Innere des Panthers ein. Der Panther verharrt in seinem Lauf, „der Glieder angespannte Stille“, und eine Veränderung bahnt sich an. Das Augenlid, hier metaphorisch der „Vorhang der Pupille“, öffnet sich, ein Bild der Außenwelt „geht ... hinein“. Das Bild ist der aktive Teil, während das Tier nur reflexartig auf einen Reiz reagiert. Die sich anbahnende Veränderung wird durch die Verben der Bewegung (schiebt, geht, geht) konkretisiert, und sie vermitteln eine sich verselbständigende Dynamik. Zugleich wird eine Spannungskurve entworfen, die sich sprachlich in den Formulierungen „lautlos“, „angespannte Stille" und der anaphorischen Reihung „geht...geht" äußert. Der Spannungsbogen wird noch unterstützt durch die beiden Gedankenstriche, die Raum für eine Denk- oder Sprechpause bieten. Diese Spannung wird durch die resignierende Feststellung im letzten Vers „und hört im Herzen auf zu sein" aufgelöst. Das sich bewegende Bild vergeht, da es an der vorbestimmten Stelle ein „Nichts“ vorfindet. Die Gebrochenheit des Tieres findet eine formale Parallele im vorzeitigen Abbruch des letzten Verses, der nur aus vier Hebungen besteht.
Betrachtet man das Gedicht als Ganzes, so fällt die enge Verbundenheit der ersten und dritten Strophe auf. Sie ergibt sich aus der gleichen Perspektive des lyrischen Subjekts, das durch die Augen als „Spiegel der Seele“ in das Innere des Tieres vordringt, Weitere formale Übereinstimmungen finden sich im Enjambement der Verse eins und zwei und in der analogen Satzanzahl. Der Kontrast zur zweiten Strophe unterstützt den krassen Widerspruch zwischen dem vitalen Körper des Panthers und seinem zerstörten Inneren; dieser Gegensatz findet eine formale Parallele im durchgängigen Kreuzreim und den alternierenden weiblichen und männlichen Kadenzen.
Das Gedicht führt dem Leser das Schicksal eines ursprünglich freien Raubtieres vor Augen, welches in der Gefangenschaft innerlich zugrunde geht, während das äußere Erscheinungsbild, verdeutlicht durch die kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen, erhalten bleibt. Im Bild des endlosen Kreisens im Käfig offenbart sich die Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit dieser widernatürlichen Daseinsform. Damit enthält dieser gleichsam zeitlose Text eine scharfe Kritik an menschlichen Eingriffen in die unberührte Natur.
H. Wilczek
Kleiner Nachtrag:
Die Zeitlosigkeit dieses Gedichts ließe durchaus eine symbolische Übertragung auf menschliche Bereiche zu. Die Käfigstäbe ließen sich als gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen und daraus resultierende Zwänge deuten, die Phantasie, Entschlusskraft und schöpferische Fähigkeiten einzelner Menschen erlahmen und schließlich absterben lassen.
Eine solche Deutungsmöglichkeit bliebe dem jeweiligen Rezipienten mit seiner ihm eigenen Lesestrategie überlassen und sollte nicht von vorneherein ausgeschlossen, jedoch auch nicht überstrapaziert werden. Letztlich kann man einem Leser weder verbieten etwas zu assoziieren noch ihn dazu zwingen, eine gewisse Richtung „anzusteuern“, gleichsam einen Filter zu benutzen, der fokusartig nur „erlaubte“, oder der Epoche gemäße Bilder und Vorstellungen durchlässt. Ein zeitloses Kunstwerk ist über solche normativen Vorgaben erhaben.
Zu Beginn meiner Beschäftigung mit diesem Text war ich auch noch völlig eingefangen von literaturgeschichtlichen „Weisheiten“, sodass ursprünglich noch die folgende Einleitung meiner Interpretation voranging:
Das 1903 in Paris entstandene Gedicht „Der Panther“ ist das früheste und bekannteste der 1907 erschienenen „Neuen Gedichte" von Rainer Maria Rilke. Es gehört in eine Reihe von Dinggedichten wie u. a. auch „Blaue Hortensie", „Die Flamingos", „Papageienpark" und „Das Karussell", in denen der Dichter sich, beeinflusst durch den Bildhauer Auguste Rodin, betrachtend und einfühlend den „Dingen“ zuwendet. Diese Gedichte haben alle ein konkretes äußeres Thema (eine Blume, ein Tier, einen Gegenstand), das gleichsam aus dem Blickwinkel eines Malers oder Bildhauers entstanden sein könnte. Der Dichter versteht sich nicht als objektiver Beobachter und sachlicher Berichterstatter, sondern er versucht von außen in das Innere der Dinge zu gelangen und deren Innerlichkeit in ein sprachliches Kunstwerk zu gießen. Ihm schwebt das Ideal einer reinen Poesie (poesie poure), einer Kunst um der Kunst willen (l'art pour l’art) vor.